Okulare
und Kanäle
Zu Ursula Maria Wartmanns Gedichtband „Am
Ende der Sichtachse“
von Monika Littau
In ihrem neuen Lyrikband führt uns Ursula Maria Wartmann ans „Ende der Sichtachse“. Wir wissen nicht, was sich an diesem Ort befindet, ob es der Punkt ist, wo die Sonne am Horizont auf- oder untergeht. Ob es sich um die markierte Stelle im Hamburger Stadtplan handelt, wo der Sprengmeister bereits den Sprengstoff angebracht hat und das Gebäude, vermutlich das Millentor-Hochaus, „in blitzschnelle Tiefe rauscht(e)“. Auch nach der Sprengung bleibt das Ende der Sichtachse markiert, vermutlich für neue Pläne.
Die Stiche des niederländischen Graveurs, Zeichners und Malers Gallis von Scheyndel (1635-1678), die auf dem Cover und vor Beginn der jeweiligen Kapitel des Buches zu finden sind, suggerieren, dass die Gedichte eine Genauigkeit im Umgang mit der Welt anstreben: des Meeres, der Landschaft, der Gebäude und der winzigen Menschen, die sich in der Landschaft entdecken lassen, Menschen, oft im Gespräch miteinander, bei der Arbeit oder beim Schlittschuhlaufen. Die Bilder legen nahe, dass sich ein Ende der Sichtachse finden und verorten lässt.
Aber Ursula Maria Wartmann ist keine Vermesserin, die mit technischem Gerät hantiert, nach Achsen, Entfernungen, Winkeln sucht, so dass sich vermuten lässt, die Gedichte umkreisen Orte, die überhaupt nicht sichtbar und fassbar sind, vielmehr nur behutsam aufscheinen,
„Nachts wird die Geschichte
weitererzählt
wenn du das Fühlen von der
Leine
lässt von Schmerz von Gewalt
unterm
Lebendrupf wirst du
erfrieren dein Zittern
wird dich die Nacht entlang
tragen …“
(S.16)
„Auf dünnem Seil“ heißt dieses für das erste Kapitel
titelgebende Gedicht.
Insgesamt gibt es fünf Zitate, unter die die Autorin ihre Texte bündelt. Im ersten Kapitel behandelt sie existenzielle Themen, spricht über den Tod zweier Kinder und die Trauer der Eltern, spricht über den Krieg und die Belastungen, die er nach sich zieht: „Unsere Koffer sind ramponiert/randvoll mit dem Schweigen der Mütter“ (S. 14) heißt es da. Die Lyrikerin spricht über die Schuld der Großmütter,
„die Skrupel streichen sie
mit knotigen Fingern/am steifen Brokat der Vorhänge ab“
(S. 17).
Heilung gibt es weder in der Herkunftsfamilie und „klassischen“ Familie, noch im „Kirchenschiff“. Zitiert werden im zweiten Kapitel Orte der Gewalt und des Missbrauchs. „das Schweigen“, heißt es dort, „sagt man ist die Siegerin der Lüge“ (S. 27). Das Abschlachten von Frau und Kind wird euphemistisch zum „erweiterten Selbstmord“ deklariert. Eine Spirale beginnt sich zu drehen, Gewalt löst Gewaltphantasien aus. „Schluck, du Luder“ steht auf dem Altpapierfahrzeug. Die betrachtende Frau
„(…) lädt ihren Hass in Ruhe
durch und trifft beim ersten
Mal
Das Grinsen platzt hinter
der Scheibe
weg wie eine reife Melone…“
Gejagte
fliehen, Frauen singen „Lieder von Freiheit“, lassen die Bombe hochgehen, die
den Herrschern ein Ende bereitet. (S. 37)
Glückliche Momente finden sich nur „Auf dem Weg zu dir“ – so der Titel des dritten Kapitels - wenn „das hungrige Herztier/hinter dem Rippenbogen/grast“ (S. 43),
wenn
das lyrische Ich die Tür zur Waldlichtung aufstößt und auf dem Weg zu seinem
Gegenüber ist, sich des Innersten gewahr wird und „(…) dein Lächeln/wie Quecksilber über/mein Herzrot hin“ rollt. Es
ist die lesbische Liebe, die den Geschmack der Süße bringt, wenn „Unter dem Gaumen die/warme Runzelknospe der
Brust“ (S. 47) Süße verspricht, Bereitschaft zu Milde und Wachstum in der
Beziehung erhoffen lässt (S. 48).
Im vierten Kapitel richtet die Autorin ihr Augenmerk auf die Natur, ökologische Probleme, den möglichen Untergang. Borkenkäfer zerstören Wälder, Wale verenden, nukleare Endlager werden nicht gefunden, Fluten bedrohen Menschen. Und trotzdem flackern
„Träume wie schwarze
Dochte wir fahren hinaus wir
fischen sie von den Schaumkronen
mit sperrigen Netzen wir
schicken sie in die Umlaufbahn
der Hoffnung (…)“ (S. 65)
Das letzte Kapitel des Buches trägt den Titel „Im Süden traurig sein“. Nicht ohne Trauer, aber mit der Gewissheit zu bleiben, endet der Lyrikband.
„Ich werfe mein Sehnen
mit weitem Arm in
die Zukunft wie
einen Anker. Hier
bleibe ich…“ (S. 91-92)
Und
auch im Winter findet sich Hoffnung: „…Unsere
Träume/fädeln wir am Ofen zum Trocknen auf/so gehen sie uns nicht verloren.“ (S.97)
Ursula Maria Wartmann ist von Hause aus Journalistin und begann ihre literarische Arbeit zunächst mit Erzählungen und Romanen. Seit 2019, also erst seit kürzester Zeit, schreibt sie auch Lyrik. „Am Ende der Sichtachse“ ist nach „Gegen acht im Park“ (2020) der zweite Gedichtband, der in der edition offenes feld erscheint. Den ersten Texten des gerade erschienen Buches spürt man die Journalistin noch ein wenig an, hat den Eindruck, dass Ursula Maria Wartmann auf Presseberichte, Bilder reagiert und die Ecken auszuleuchten versucht, für die im Journal kein Platz ist. Sie geht deutlich über die Sichtachse hinaus, ist auf der Suche nach der persönlichen Wahrheit, der „Herzenswahrheit“. Selten habe ich in jüngster Zeit einen Lyrikband gelesen, in dem so oft das Wort Herz vorkommt, ohne zu belasten, ohne pathetisch zu werden. Ursula Maria Wartmann scheut sich nicht, diese Metapher zu verwenden, stellt sie in Kontexte, die mit starker Metaphorik ein Gesamtbild eingehen. Sie belauscht die Katzen „die sich durch Hunger wühlten wie wir und durch unsere Träume“, durchschreitet Räume voller „taunasser Streuobstwiesen der Angst“ (S. 14) und voller Hoffnung.
In
freien Rhythmen, die den sprachlichen Eindruck mit Alliterationen und
Parallelismen, einem Zeilenbau, der Ambivalenzen aufzeigt und Bedeutungsverschiebungen
bewirkt, geht sie bewusst dorthin, wo nicht mit dem Auge betrachtet wird,
zumindest nicht ausschließlich. Man sieht nur mit der Lyrik gut, könnte man am
Ende bestätigen. Die Gedichte von Ursula Maria Wartmann sind zugleich Okulare,
um tiefer in die Welt zu schauen und Kanäle, durch die etwas Neues in die Welt eintritt.
Rembrandt-Licht und andere Bildausleuchtungen
Zu Klára Hůrkovás Lyrikband: „Licht in der Manteltasche“
von Monika Littau
Gleich zweimal gehen Gedichte in Klára Hůrkovás neuem Lyrikband auf Bilder vergangener Meister und Jahrhunderte ein. Zum einen handelt es sich um einen Text mit dem Titel „Melancholie, nach Dürer“. Darin beschreibt die Autorin eine Situation, in der sich Schülerinnen und Schüler mit den Elementen des Bildes „Melencholia I“ befassen[1], zunächst noch müde und ein bisschen widerwillig, dann aber beginnen „die Dinge zu leben“. „Plötzlich erstrahlen die Gesichter/ vor Lust/ nach Bedeutungen zu suchen/ in der neu entdeckten Freiheit“ (S. 38-39).
Weiter unter: https://www.fixpoetry.com
über Lea Schneiders neue Veröffentlichung "made in china" (Verlagshaus Berlin) von Monika Littau
Wer
über das Riesenland China, das von seinen Ausmaßen so groß wie Europa ist, aber
dreimal mehr Einwohner hat, etwas sagen will, kann
nur punktuell verfahren, kann einen Punkt neben den anderen setzen und muss oft
feststellen, dass das Gemeinsame dieser Punkte im Gegensatz liegt. Lea
Schneider zitiert zu Beginn ihres Buches den Pekinger Dichter Xi Chuan: „westler beschweren sich häufig, dass china
völlig unverständlich sei. chinesen verstehen china genauso wenig, aber auf
einer ganz grundsätzlichen ebene wollen sie das auch gar nicht.“
(...) weiterlesen unter: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/lea-schneider/made-in-china-0
Aus
Wollgewölk gewoben
Zum Rolf Birkholz neuem Lyrikband „Das Fell der Welt“ (Chiliverlag) von Monika Littau
(...)
Dominospielen mit löwenessenden Dichtern
Zum Kettengedicht "Flüsterndes Licht" von Nora Gomringer, Marco Grosse, Annette Hagemann, Ulrich Koch und Klaus Merz (Haymon Verlag) von Monika Littau
Wer von „Qi“ spricht, meint Gesundheit und Energie, meint Atem und Fluidum, meint Temperament und Emotion. Wer sich jedoch mit „Shi“ befasst, spricht von Gedichten. Shi lautet der Oberbegriff für chinesische Lyrik. Die Ähnlichkeit in Wort und Klang der Begriffe scheinen die Verwandtschaft von Energie und Sprache offenbaren zu wollen. Und auch ein „Renshi“ ist natürlich „Shi“, nämlich ein freies, modernes, japanisches Kettengedicht, das sich von der stilistisch fest gefügten Form eines Renga befreit hat. (...)
Die Autorin Antje Dertinger zeichnet sich in ihrem literarischen Schaffen durch zwei besondere Arbeitsschwerpunkte aus: Zum einen geht es in ihren Arbeiten häufig um Frauenthemen (beispielsweise: „Schenk mir deinen Namen. Scheinehen zwischen Menschlichkeit und Kriminalität“), zum anderen hat sie sich in den mehr als 13 Publikationen, die sie vorgelegt hat, immer wieder mit Opfern des Nationalsozialismus befasst (Beispiel: „Weisse Möwe, Gelber Stern. Das kurze Leben der Helga Beyer“).